Starren
Er stand schon den ganzen Morgen am Felsen. Ich konnte ihn von meinem Fenster aus sehen, wenn ich den Vorhang zurückschob und an der Laterne vorbeischaute. Er stand da, in seinem dunkelblauen Anorak, einer verblichenen Jeans, braunen Stiefeln, unter seinem Arm eine Tageszeitung, den Kopf Richtung Meer. Zuerst dachte ich, er wartet auf jemanden, oder er steht da, weil er über etwas nachdenkt.
Manche Menschen sind so: Bleiben einfach mitten im Geschehen stehen, auf dem Gehweg, vor einer Parkbank, in Fußgängerzonen, und starren vor sich hin, blicken einfach ins Nichts. Manche bemerken gar nichts von dem, was um sie herum vorgeht. Sie stehen da, mit leerem Gesichtsausdruck und hängenden Schultern. Manchmal ist es ihnen peinlich, beim Ins-Nichts-Starren ertappt zu werden, und sie postieren sich vorausschauend vor Schaufenstern und tun so, als ob sie die Auslagen betrachten. Dabei tun sie doch nichts Anderes als Ins-Nichts-Starren. Als wären ihre Batterien leer, wie bei dieser Werbung mit den Tambourin-Äffchen: Nur einer hat die Super-Batterien und darf weiterzappeln, die anderen sind in Villa Bajo geblieben und müssen putzen, nein, starren.
Was würde passieren, wenn man so jemanden beim Starren anspricht? „Entschuldigen Sie bitte, was geht Ihnen denn gerade durch den Kopf? Worüber denken Sie nach?“ Man bekäme nur ein verwirrtes „Was? Öhm, nichts!“ zur Antwort. Das Unglaubliche ist nämlich, dass diese Sorte Starrer nicht über irgendetwas Konkretes nachdenkt (wie beispielsweise über ein Heilmittel gegen Pankreaskrebs, erneuerbare Energien oder wie sie ihre Frau endlich wieder zum Lachen bringen können), sondern einfach ausgelaufen sind. Leergelaufen. Wie die Tambourin-Äffchen.
Zunächst dachte ich noch, er starre so vor sich hin, auf dem Weg zurück vom Café, wo er zum Frühstück einen Cappucchino oder einen Latte Macchiato getrunken hat und in Ruhe seine Zeitung lesen konnte. Aber als ich nach einer halben Stunde noch einmal zum Fenster lief, um nachzusehen, ob die Sonne schon rausgekommen war, da stand er noch immer da. Er hatte sich in der letzten halben Stunde nicht bewegt. Er stand einfach da, hielt seine Zeitung fest und blickte gen Meer.
Ich fand das schon kurios, wie er da so stand und starrte. Normalerweise starren Männer erst ab einem Alter von siebzig Jahren in der Öffentlichkeit. Wenn sie jünger sind, starren sie vorwiegend zu Hause, Richtung Fernsehen, und tun so, als würden sie das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgen. Oder streicheln mit dem Daumen über das Glas ihrer Smartphones. Oder bei der Arbeit am Computer, wo sie wie unter Zwang immer wieder auf die Mouse klicken, um Mails abrufen. In Wirklichkeit starren sie intensiv vor sich hin.
Dieser Mann hier war vielleicht vierzig und viel zu jung, um in der frischen Luft zu stehen und in Richtung Meer zu starren. Ich ging später mit Meike zum Kiosk und kaufte Orangensaft und Kekse. Im Urlaub koche ich nie, wir essen meistens tagsüber Blödsinn und gehen abends schön Essen, mit Vorspeise und Wein und allem piff und paff. Als wir vom Kiosk zurückkamen, wollte Meike unbedingt nachsehen, ob er immer noch da stand. Ja, er stand da immer noch. Und ja, er starrte immer noch. Mittlerweile waren schon mehrere Stunden vergangen, seit ich ihn das erste Mal bemerkt hatte. Wir begannen nun, ihn uns genauer anzusehen: Er war ziemlich schlank, bewegte sich eben kaum, und sein Gesicht konnte man nur schwach im Profil sehen, da er immer in dieselbe Richtung blickte, so dass wir von unserem Standpunkt aus keine Frontalsicht auf ihn hatten. Er wirkte, als würde er zögern, weil er zwar da stand, aber er stand da so, als stünde er gegen seinen Willen da.
Am nächsten Morgen stand noch nichts in der Zeitung, da hatte uns nur der Mann im Kiosk was darüber erzählt. Aber am Tag, an dem wir abreisten, kauften wir uns bei unserem letzten Besuch im Kiosk noch die regionale Tageszeitung, und da stand es dann drin.
„41-jähriger sprang vom Affenfelsen – Selbstmord aus Liebeskummer? Sömmern (red) - Ein 41-jähriger Familienvater stürzte sich am vergangenen Donnerstag gegen 16 Uhr vom Affenfelsen. Er schlug auf einem Felsvorsprung 20 Meter weiter auf und erlag noch am Unfallort seinen schweren Kopfverletzungen. Zeugen berichten, sie haben den Mann dabei beobachtet, wie er versucht hatte, über das Absperrgitter zu klettern. Da er aber davon wieder abließ, gingen sie weiter. Der Mann wurde am Tag zuvor von seiner Frau verlassen, die beiden haben zwei gemeinsame Töchter."
Seit diesem Tag spreche ich die Männer, die ich beim Starren ertappe, an, verwickle sie in ein Gespräch (so gut es eben geht), um zu herauszufinden, ob mit ihnen alles in Ordnung ist. Ich begegne immer weniger von ihnen. Ich glaube, sie haben Angst vor mir.