Köln und ich
Heute ist Veilchendienstag. Köln vibriert seit Tagen. Ich werde morgens geweckt vom Geklapper der Pferde vor meinem Fenster, die brav zum Aufstellort Chlodwigplatz trotten. Kein Karneval für mich. Ich liege krank im Bett, aber auch sonst fällt es mir schwer, mich in die Massen zu werfen und unbeschwert Karnevalslieder zu singen. Wie mir geht es tatsächlich auch noch anderen Kölnern. Sie verreisen in der fünften Jahreszeit, flüchten nach Weimar, Hamburg oder Berlin, um dem 133-Stunden-Trubel zu entkommen. Nur ich, ich bin hier. Krank im Bett. Und dabei fällt mir ein Text ein, den ich vor vielen Jahren geschrieben habe.
Köln ist die hässlichste Stadt, die ich kenne. Ich war bisher noch nie in Shanghai oder den Favelas von Rio de Janeiro, und sogar Sydney soll hässliche Ecken haben, aber die kenne ich alle nicht persönlich, und daher ist Köln die hässlichste Stadt, die ich kenne und in der ich je gelebt habe.
War es Heinrich Böll oder Jürgen Zeltinger, der einmal gesagt hat, dass Köln zweimal zerstört wurde – einmal während des Krieges und einmal danach?
Beim Wiederaufbau der völlig zerbombten Stadt muss Adenauer gesagt haben: Macht mal Wohnungen, macht mal Dächer über Köpfe. Und das ließen sich die Architekten nicht zweimal sagen. Fleißig zog man Häuser hoch, deren Fronten gerne gekachelt wurden, so dass man noch heute beim Spaziergang durch die Straßen der Stadt an Schlachthöfe erinnert wird, deren blutige Wände man mit einem großen Wasserschlauch wieder abspülen kann.
Manchmal habe ich den Verdacht, dass alle Kölner Architekten im Krieg gefallen sind, so dass die Häuser von Architekten von außerhalb, Düsseldorf oder Leverkusen, die nicht selbst in der Stadt leben wollten, entworfen wurden und die noch sehr viele Rechnungen mit den Kölnern offen hatten.
Wenn man Touristen, die sich in homogenen Gruppen durch die größte Kölner Kaufstraße Schildergasse schieben, fragt, was sie an Köln schön finden, dann hört man 'Na, der Dom' oder 'Kölle Alaaf', aber nie hat jemand geantwortet: Weil die Stadt einfach wunderschön ist.
Fragt man einen Kölner, warum er in Köln lebt, dann passiert etwas sehr Irritierendes. Er beginnt, in den höchsten Tönen von der Stadt zu schwärmen:
Der Fastelovend oder auch Fasteleer (so nennen Einheimische die Zeit zwischen dem 11. November und Aschermittwoch), die „kölsche Sprooch“ (ein Geheimcode, der durch die Musikgruppe BAP Anfang der Achtziger Jahre einer größeren Personengruppe zugänglich gemacht wurde), der Dom (eine Riesenkirche, in der die Gebeine der Heiligen Drei Könige liegen), die Herzlichkeit der Kölner (das sind Menschen, die man grundsätzlich nicht in der Kölner Altstadt antrifft) und so weiter.
Wirft der neugierige Fragesteller ein, dass die Stadt objektiv betrachtet ja eine unglückliche Anhäufung von Bausünden und das rituelle Einnehmen von Alkoholika keine Erfindung der Rheinländer ist, erntet er entweder beleidigtes Nasehochziehen oder, was vielleicht wahrscheinlicher ist, eisiges Schweigen, denn der Kölner besitzt die erstaunliche Fähigkeit, jegliche Kritik an seiner Stadt ausblenden zu können. Eine Gabe, die (in Ampullen verpackt) das Wesen der Psychiatrie revolutionieren könnte.
Woher kommt diese kritiklose Liebe des Kölners zu seiner Stadt, die eine bemerkenswerte Abneigung zu der etwas nördlicher gelegenen Stadt Düsseldorf einschließt?
Jeder Mensch sucht in seinem Leben nach Liebe, Anerkennung und Identität. In den besten Fällen erhält er all dies bereits in den ersten Lebensjahren durch seine Eltern. Diese Suche nach Liebe, Anerkennung und Identität hört aber nie auf. Noch mit fünfzig möchten die Meisten, dass ihre Eltern all das, was sie tun und sind, honorieren (‚Guck mal, Mama, wie ich gucke!“), und der Nachbar soll sowieso vor Neid platzen, wenn man mit dem neuen Auto vorfährt.
Köln schafft all das. Die Geheimsprache, der Stolz auf den Dom, das besondere Bier (‚Kölsch’) und der alljährliche Ritus des Fastelovend inklusive das Beherrschen der unzähligen Lieder, die jeder Kölner ab Einschulung wie das Vater Unser aus dem Effeff kennt, wecken in den Einwohnern das Gefühl, Teil eines Ganzen, Teil von etwas Größerem als man selbst, nämlich Teil einer großen, verschworenen Gemeinschaft zu sein.
Teil der Stadt Köln.
Das schafft Identität.
Wenn bei einem Rockkonzert zehntausend zahlende Gäste die Lieder ihres Stars mitsingen, entsteht auch ein Gemeinschaftsgefühl. Geht allerdings das Saallicht wieder an, ist jeder in seinem verschwitzten Fan-Shirt wieder auf seine eigene, verlorene Existenz zurück geworfen.
Nicht so der Kölner.
Hat er auch keine Arbeit, kein Geld, keine Liebe, so schafft doch die Liebe zu seiner Stadt ein Gefühl von Identität und macht ihn zu etwas Besonderem: Einem Kölner.
Er feiert seine Existenz als Kölner. Der Kölner liebt also nicht Köln, sondern das Gefühl, das Köln in ihm auslöst. In den Liedern wird dieses Gefühl immer wieder beschworen, damit es auch ja nicht vergessen wird, im Titel gerne mit Dom ('Ich nemm dr Dom met') oder der Stadt selbst ('Hey Kölle, Du bess e Jeföhl') oder manchmal sogar beidem ('Mir losse dr Dom in Kölle').
Der Kölner singt die Lieder, um zu feiern, dass er Köln liebt, und er liebt Köln, weil das Liedersingen in ihm das Gefühl auslöst, Kölner zu sein.
Gerade der Dom ist Stein gewordenes Gefühl, dessen Anblick den Kölner immer wieder daran erinnert, wer er ist: Ein Kölner unter Kölnern. Und dann wird ihm ganz warm ums Herz.
Das betont er zumindest vor Fremden. Man berichtet sogar von Kölnern, die nach einer kurzen Reise ins Ausland beim erneuten Anblick des Kölner Doms vor Rührung in Tränen ausbrechen.
Sie fragen sich, was das soll? Das erinnert Sie an den Trinker in ‚Der Kleine Prinz’, der trinkt, um zu vergessen, dass er sich schämt, dass er trinkt? Dann sagen Sie das mal einem Kölner.
Warum ich in der hässlichsten Stadt der Welt lebe? Das sage ich Ihnen gerne später. Jetzt muss ich das Lied zur neuen Session zu Ende lernen.
In diesem Sinne ein dreifaches
Kölle - Alaaf!
Kölle - Alaaf!
Kölle - Alaaf!