Auf eine Latte Macchiato mit Marianne Ricking
1881 initiierten zwei Kölner Familien den ersten Kindergarten Kölns. Sie gründeten eine Stiftung und sprachen die Gründerin des Paderborner Ordens „Kongregation der Schwestern der Christlichen Liebe“, Pauline von Mallinckrodt, an, ob ihre Schwestern nicht die Betreuung der Kinder übernehmen wollten.
Sie willigte ein und schickte einige ihrer Ordensschwestern nach Köln, und das über 125 Jahre. Wegen immer geringeren Ordensnachwuchses zog der Orden 2007 die Schwestern zurück. Das Haupthaus an der Dreikönigenstraße wurde inwischen zu einem Hotel umgebaut. Seit 1980 war Marianne Ricking eine der Ordensschwestern, damals und heute noch vielen als ‚Schwester Eva-Maria’ bekannt. Sie ist Teil vieler Familienbiografien in der Südstadt, denn sie leitete 36 Jahre eben jenen ältesten Kindergarten Kölns, die Kindertagesstätte St. Josefshaus „An der Eiche“. Diesen Sommer trat sie in den Ruhestand. Wir treffen uns zu einem Interview.
Wie hat sich die Kindheit in den letzten Jahrzehnten verändert? Das Bild vom Kind hat sich wesentlich geändert. Im Vergleich zur Pädagogik von 1980 werden Kinder heute in ihrer Persönlichkeit ernster genommen. Wir sind mit den Kindern auf Augenhöhe, ich nehme es in seiner Persönlichkeit ernst. Früher hatten Kinder kein Mitspracherecht. Sie kamen in den Kindergarten, es gab eine feste Struktur, und die wurde umgesetzt. Zum Beispiel wurde den Kindern früher das Essen auf den Teller gegeben, nach dem Motto: „Ich weiß, was dir gut tut." Heute nehmen sie sich das Essen selbst. Es ist eine begleitende Pädagogik, man bezieht die Kinder mit ein. Diese kleinen, vielleicht für uns auf den ersten Blick „unwesentlichen Dinge“ zeigen aber, wie sehr sich das Bild vom Kind verändert hat.
Ein weiteres Beispiel: Beim Umbau der Einrichtung in den letzten zwei Jahren wurden alle Türklinken auf einer Höhe von 80 cm installiert. So kann jetzt jedes Kind die Tür selbstständig öffnen und schließen. Früher wurde alles hoch gelegt, damit die Kinder eben nicht dran kamen. Heute traut man ihnen zu, dass sie damit umgehen können. Und wenn man spürt, dass es für das Kind noch schwierig ist, dann begleitet man es dabei; wir sprechen heute von ‚begleitender Pädagogik’.
Das ist ein völlig anderer Blickwinkel als noch vor 30 Jahren. Da schaute der Erwachsene von oben auf das Kind. Aber Kinder sind Persönlichkeiten. Man erlebt an ihnen, wie sehr der Charakter schon im Grunde des Menschen angelegt ist. Natürlich gibt es auch trotzige Phasen, in denen das Kind mit Nachdruck zeigt, was es möchte. Wir brechen aber keinen Willen, wir lenken ihn. Kinder sind gleichwertig, aber aufgrund ihres Alters und ihrer Entwicklung noch nicht gleichberechtigt. Und ich kann trotzdem auf Augenhöhe mit ihnen sein und sie mit einbeziehen. Wie haben sich die Eltern in der Südstadt in den letzten Jahrzehnten verändert? (lacht) Die haben sich sehr verändert. Die Anmeldezahlen waren allerdings damals schon genauso hoch wie heute. Die Verfahrensweise war allerdings eine etwas andere: die Kinder wurden nicht vor-angemeldet, sondern standen am ersten Tag nach den Sommerferien in einer langen Schlange, bis weit über die Eiche, vor der Tür. Die Leitung saß im Büro und nahm die Kinder der Reihe nach auf.
Die Kinder kamen nach der Anmeldung gleich in die Gruppe und wurden abgegeben. Da gab es keine Eingewöhnungsphase. An meinem ersten Arbeitstag, dem 1. August 1980, ging ich ins Büro und sagte zu der damaligen Leiterin: „Schwester, ich habe 40 Kinder in der Gruppe?!“ Und die Schwester entgegnete: „Ach, 40? Da passen noch fünf dazu!“ Wir hatten damals 160 Kinder im ganzen Kindergarten. Es waren sehr, sehr viele. Ich sage ja immer, die Mischung macht’s. Aber manchmal macht es die Mischung auch nicht immer einfach. Wir hatten damals 80% ausländische Kinder, von denen ca. 70% muslimisch waren. Und so feierten wir in einem katholischen Kindergarten jedes Jahr auch das Zuckerfest. Die Stiftung hatte es sich schon 1881 zum Leitsatz gemacht, alle Kinder aufzunehmen, ohne Ansehen der Person oder der Herkunft.
Arbeiterinnen bei Stollwerck, Juni 1962
Bereits 1881 gab es die Stollwerck-Schokoladenfabrik. Viele allein erziehende Mütter gaben damals ihre Kinder schon um 6 Uhr morgens ab und gingen zur Arbeit. Wir hatten zwar in all den Jahren nicht mehr ab 6 Uhr geöffnet wie im 19. Jh., aber ich kann ganz viele Beispiele nennen, wo ich Kinder bis 19 Uhr betreut habe. Das war selbstverständlich. Die offiziellen Öffnungszeiten waren zwar deutlich kürzer, aber die Mütter wussten, dass es möglich war, die Kinder länger bei uns zu lassen. Und wenn der Kindergarten im Sommer geschlossen war, fuhren die Schwestern mit den Kindern in die Ferien nach Marienfeld bei Siegburg in ein altes, unbewohntes Pfarrhaus. Früher waren die Eltern bemüht, dass sie einen Platz bekamen. Da wurde nicht zuerst nach Pädagogik gefragt - Hauptsache, das Kind war betreut. Heute hat der Kindergarten eine andere Stellung in der Gesellschaft. Die Eltern sind beide berufstätig, und es ist ihnen wichtig, nach einem langen Studium auch in ihren Beruf einzusteigen. Dabei ist es ihnen aber nicht egal, wie ihre Kinder betreut werden.
An unserem wöchentlichen Anmeldetag gab es immer großes Interesse, weil die Eltern wissen wollten, wo sie ihr Kind unterbringen und welches pädagogische Konzept wir umsetzen. Insgesamt ist es positiv, dass Eltern so großes Interesse zeigen. Sie fragen sich: geht es meinem Kind hier gut? Kann ich mit gutem Gewissen meinem Beruf nachgehen? Die Einrichtung hat da auch die Aufgabe, gute Elternarbeit zu leisten. Das finde ich ganz wichtig.
In Köln herrscht große Not an Kindergartenplätzen. In Gesprächen mit Eltern höre ich oft: ich möchte das Beste für mein Kind, aber habe ich eine Wahl? Wir haben in diesem Jahr 30 neue Kinder aufgenommen. Gemessen am Bedarf ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie haben die meisten Mahlzeiten Ihres Lebens im Kindergarten gegessen. Welches Gericht hatten Sie am häufigsten gegessen? Unsere Kinder sagen immer: Salanje. Also: Lasagne.
Was machen Sie gerade? Im Moment gehe ich einmal die Woche in den Kindergarten und unterstütze meine Nachfolgerin in den technischen und organisatorischen Fragen, die aufkommen. Das gefällt mir, weil ich so etappenweise Abschied nehme und nicht von 100 auf 0 gehe. Ich engagiere mich weiterhin in der Gemeinde und möchte da mein Ehrenamt verstärken, mache weiter im Förderverein und auch im Familienzentrum und koordiniere Angebote mit dem Altenheim. Wir sind ja Alt und Jung unter einem Dach. Was bewegt Sie derzeit? 36 Jahre sind eine lange Zeit, da habe ich die Einrichtung natürlich auch mitgeprägt. Im Moment ist mein größtes Anliegen, dass meine Nachfolgerin gut in ihre Arbeit reinwächst. Es ist ein so geschichtsträchtiger Kindergarten, und die Tradition und Vernetzung mit dem Altenheim in den oberen Stockwerken sollte auch weiter gepflegt werden. Was vermissen Sie am meisten, seit Sie in Rente sind? Den Blick auf den Dom, wenn ich bei Sonnenaufgang die Rheinuferstraße entlang fahre. Was vermissen Sie am wenigsten? Das Klingeln des Weckers um 5:45 Uhr. Was verbinden Sie mit der Südstadt? In der Südstadt bin ich verwurzelt, sie ist für mich ein Stück Heimat geworden mit allem, was dazu gehört: Geborgenheit, Freunde, mein Zuhause. Hier kann ich so sein, wie ich bin: Marianne Ricking.
Das Interview erschien zuerst auf Meine Südstadt.