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Fliegen lernen - eine Kurzgeschichte

„Pling!“

Der impertinente Ton erklang, den sie seit dem Start voll unheilschwangerer Vorahnungen erwartet hatte und der aufdringlich die Landung ankündigte. Für Erstflieger und Schwerhörige wurde es in Worten wiederholt:

„Meine Damen und Herren, zur Landung bitten wir Sie, die Rückenlehnen Ihrer Sitze wieder senkrecht zu stellen und die Tische hochzuklappen. Vielen Dank.“

Jetzt ging es also schon wieder los. Todesangst. Berechtigterweise. Die meisten Abstürze passieren ja nachweislich beim Starten und Landen. Aber das dekadente Fliegervolk will das gar nicht wissen. Hauptsache ab in die Sonne, Hauptsache heute Wanne-Eickel, morgen Hong Kong, und Silvester verbringt man dann am Zuckerhut. Ignorantes Pack! Sie grunzte verächtlich.

Niemand knabberte an der Nagelhaut, keiner schaute sich mit verstohlenem Blick nach dem Notausstieg um. Nur die ältere Dame, die sich seit dem Start im Minutentakt Notfallbonbons in den Mund geschoben hatte, klammerte sich mit geschlossenen Augen in ihren Sitz. Diese tapfere Frau hatte als Einzige (außer ihr) den Ernst der Situation erkannt.

Flugzeug

Im Vorübergehen wurden die letzten Pappbecher mit Tomatensaftresten weggeräumt.

Der dicke Mann in der ersten Reihe hatte mit dem Anschnallen nicht mehr die großen Probleme wie beim Start. Da hatte das gar nicht hingehauen, und er musste sich extra eine Gurtverlängerung bringen lassen. Wie demütigend! Spätestens jetzt sollte er sich vorgenommen haben, Vor- und Nachspeisen zu meiden, zumindest für den Anfang.

Sie griff nach den zuckerfreien Kaugummis, die extra für die Landung ganz vorne in ihrer Tasche auf den Einsatz warteten. Daneben befand sich der mit Sand gefüllte Gummiballon, den sie heimlich immer wieder durchgeknetet hatte. Er war schon ganz warm.

Das Kaugummi schmeckte nach Spearmint. So stand es zumindest auf der Packung. Für sie schmeckte es nach Flugzeug. Nach Panik. Sie kaute es nur im Flugzeug. Ihre frei geputzten Zahnhälse machten da sonst nicht mehr mit. Noch Stunden später würde sie kein Brot oder schlimmer noch Weißwein zu sich nehmen können, weil das dann so schmerzhaft zog, als würde sie sich ohne Narkose mit einem Kugelschreiber ein Loch in den Zahn bohren. Aber im Seminar hatten sie gesagt, Kaugummi wäre gut für die Ohren. Druckausgleich.

Jetzt ging’s aber so richtig los! Sturzflug. War mit den Triebwerken alles in Ordnung? Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie durch das viel zu kleine Plastikfenster, das allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz auch noch einen Sprung hatte, auf den riesigen Flügel der Todesmaschine. Sie hatte sich mittlerweile ans Fenster gesetzt, wie es den Passagieren bei diesen schweineteuren Flugangstseminaren beigebracht wurde. Rausschauen! Das war der Schlüssel zum Erfolg. Weil sie dann mehr Kontrollgefühl habe und als erste sähe, wenn da was an dem Triebwerk brennt.

Gut - wenn es jetzt auf der anderen Seite brennt, dann wäre sie verloren. Dem Tode geweiht. Aber das war sie sowieso. Das war sie seit dem Moment, in dem sie sich auf dieses Himmelfahrtskommando eingelassen hatte.

Jetzt tief einatmen, tief ausatmen. Zwischendurch Kaugummi kauen. Druckausgleich. Wenn sie es diesmal schaffte, ohne Panikattacke zu landen, hätte sie endlich den Mut, mit Uwe den seit Monaten diskutierten Urlaub auf den Malediven zu verbringen. Nach Fischen tauchen, lesen, sonnenbaden, stundenlange Strandspaziergänge, endlose Gespräche, Inselkoller, Beziehungskrise, Trennung. Besser nicht.

Sie blickte noch einmal aus dem Fenster. War das nicht immer wieder das Allerschönste? Blauer Himmel über einem riesigen Wattebett. Gleißendes Sonnenlicht. Und jetzt brachen sie durch die Wolkendecke, und unter ihr sah sie die Landschaften des Rhein-Neckar-Gebietes. Sie kamen aus München, also war das hier Heidelberg. Und das riesige Grün da hinten dann der Odenwald. Und da, die ganzen Felder. Wie gekämmt sahen die aus! Erst von oben erkannte man, dass das alles einer großen Ordnung folgt. Wenn auch von Menschenhand gemacht. Oder nicht?

Manchmal wünschte sie sich, ihr Leben auch mal mit dem gebotenen Abstand von oben betrachten zu können, um eine Struktur zu erkennen. Ob es da wohl eine gäbe? Und wenn ja, würde ihr die gefallen? Welchen Regeln würde sie folgen? Und wer hatte die aufgestellt? Sie selbst? Oder ihre Mutter? Oder vielleicht - die Gene?

Sie verhakte sich in ihren Gedanken und vergaß darüber ihre Atemübungen zu machen. Der Boden kam immer schneller näher, die Turbinen setzten aus, und jetzt: Bodenkontakt. Willkommen zurück in der Unordnung.

Der dicke Mann wischte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Die ältere Dame setzte sich aufrecht und lächelte triumphierend.

Vereinzelt applaudierten unprofessionelle Wenigflieger. Heute klatschte sie mit, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Beherzt griff sie wieder zum Mikrofon und sang hörbar erleichtert: „Wir bedanken uns, dass Sie mit Lufthansa geflogen sind und wünschen Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Frankfurt.“

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