Relativ schön
Was wäre, wenn Du in ein Land reist, in dem alles anders ist, als Du es kennst? Und zwar nicht nur in Sachen Schönheitsideal, sondern auch in bezug auf viele andere Dinge? Tine Wittler hat das ausprobiert, und weil ihr schon klar war, dass neue Eindrücke zu neuen Erkenntnissen führen, hat sie den Regisseur und Kameramann René Schöttler sowie Tonfrau Irina Linke gleich mitgenommen. Den Film "Wer schön sein will, muss reisen" über diese Reise, die im Januar und Februar 2011 stattfand, kann man sich jetzt im Odeon Kino anschauen. Die Filmbewertungsstelle verlieh das Prädikat ‚Wertvoll’. Und das zu Recht.
Am Anfang stand die Recherche für ein Buch. Wittler schreibt Frauenromane und wollte aufzeigen, wie die rundliche Protagonistin beginnt, die Relativität von Schönheitsidealen zu begreifen. Bei ihrer Recherche stieß sie dabei auf das westafrikanische Mauretanien, über das man hier kaum etwas weiß, und ihr wurde schnell klar, dass sie diese Reise selbst antreten muss. Denn man kann nicht über ein Land schreiben, das man nicht kennt. Anstatt sich einen Produzenten zu suchen, entschied sie sich dafür, selbst zur Produzentin zu werden: Mauretanien ist ein unsicheres Land und Produzenten wollen Sicherheit. Zudem sollte der Film der Dynamik des „Cinema Direct“ folgen: Kein Drehbuch, kein Casting – eine Fragestellung, und los geht’s. Auch ist der übliche Blick auf Afrika aus eurozentrierter Sicht sehr eingefahren. Tine Wittler war die Gefahr zu groß, dass womöglich nur eigene Klischees dort aufgesucht und die Beweisführung abgefilmt würden. Heraus kam ein großartiger Dokumentarfilm, der anders ist. Weil er eben eine andere Bildsprache hat – und nicht die bekannten Muster von Dokumentarfilmen wiederholt, die der Zuschauer schon kennt. Der Film lässt sich ein auf ein Land, das uns gänzlich unbekannt ist. Dort herrscht das Schönheitsideal, dass dicke Frauen besonders schön sind, denn Dicksein setzen die Mauretanier traditionell mit Reichtum und Attraktivität gleich. Schon kleine Mädchen werden hochkalorisch gefüttert, damit sie jung reich verheiratet werden können. Wir entdecken gemeinsam mit Tine Wittler die Schönheit und Kraft der Frauen, die ihr begegnen. Wir lernen Wafa kennen, eine Mauretanierin mit Deutschkenntnissen, die das Kamerateam charmant unterstützt, indem sie übersetzt und Kontakte herstellt und ohne die das Team nie so tief in die Gedankenwelt der Mauretanierinnen eingedrungen wäre. Wir treffen eine Frauenrechtlerin, eine Musikerin, einen Philosophen, geraten in eine gefährliche Situation und wohnen einer ‚Gavage’ bei, bei der sich Frauen mit hochkalorischem Essen mästen.
Was ist schön? Gut, Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Aber warum betrachtet er manche Dinge als schön, und manche eben nicht? Und wer betrachtet da eigentlich wen? Tine Wittler reiste nach Köln ins Odeon, um den Film zum Kinostart persönlich vorzustellen. Die Zuschauer waren sehr angetan, es gab bewegten Applaus und immer wieder Stimmen aus dem Publikum, wie wichtig und wie großartig der Film sei. Wittler dankte Jürgen Lütz, dem Geschäftsführer des Odeon, für seinen Mut, den Film zu zeigen, denn wenn Tine Wittler ihren Namen nennt, schließen auch viele wieder die Türen:„Das ist doch die von RTL. Die kann ja jetzt keine guten Dokumentarfilme machen, oder?“ – Doch, kann sie. Tine Wittler, welche Konsequenzen haben Sie persönlich aus Ihren Erkenntnissen gezogen? „Ich habe mir die Frage gestellt: Wofür ist mein Körper da? Ist er dazu da, dass andere ihn begutachten und bewerten? Oder gehört er mir und ist für mich da? – Ich habe mich für letzteres entschieden, und jetzt muss ich mich nicht mehr fragen, wie andere meine äußere Hülle beurteilen. Ich kann meinen Weg gehen, ohne mich von dem oft oberflächlichen Urteil anderer verunsichern zu lassen. Als ich beim Fernsehen angefangen habe, gab es einige Momente und Reaktionen, in denen ich mich nicht nur wie ein Nilpferd unter Flamingos gefühlt, sondern auch eine unglaubliche, unterschwellige Wut auf mich wahrgenommen habe. Manche Menschen werden geradezu wütend, wenn sie mich sehen – weil allein mein ‚So-Sein’ auf sie aus irgendeinem Grunde wie eine Beleidigung, ein Affront wirkt. Aber warum? Wie entstehen solche Geisteshaltungen? Welche Mechanismen spielen hierbei eine Rolle? – Auch diese Frage war eine Triebfeder für den Film.“
Foto: Dirk Gebhardt/laif Es gibt den Postkartenspruch: „Gäbe es keine Männer auf der Welt, wären wir alle dick und glücklich.“ „Es wäre aber absolut falsch, ‚die Männer’ oder zum Beispiel auch ‚die Medien’ hier zu den allein Schuldigen machen zu wollen. Natürlich ist es richtig, dass seit Jahrhunderten für Frauen die Währung ‚Schönheit’ gilt und für Männer die Währung ‚Macht’ oder ‚Geld’: Mächtige Männer schmücken sich mit schönen Frauen und umgekehrt. So heben sie gegenseitig ihren Status. Dies führt zu geradezu pervertierten Zuständen. Auf meiner Lesereise mit dem Buch zum Projekt sprechen mich auch oft Männer an. Sie sagen zum Beispiel: ’Ich liebe meine Frau sehr und sage ihr das auch. Aber sie mäkelt trotzdem den ganzen Tag an sich rum. Ich ertrage das kaum noch.’ Letztlich bauen wir Frauen uns diesen Druck, einem Schönheitsideal entsprechen oder als ‚schön’ gelten zu wollen also auch selbst auf. Wir vergessen zu oft, dass wir selbst entscheiden, was für uns persönlich wirklich relevant ist. In nahezu jedem Hollywood-Film, den ich mir anschaue, findet eine Beleidigung oder ein Witz über den Körper einer Frau statt. Oder es gibt als Gag ein Blind Date mit einer ‚Dicken’ – ergo ‚Hässlichen’. Da machen auch deutsche Filme leider keine Ausnahme. Wir könnten das ändern – aber wir müssen selbst damit anfangen. Leider gibt es sogar unter Feministinnen keine Einheit. Ich habe vor längerer Zeit mal ein Experiment gemacht und versucht, sechs Wochen lang andere nicht über Äußerlichkeiten zu beurteilen – ob verbal oder auch nur in Gedanken. Das war so schwer! Wir sind so daran gewöhnt, dies zu tun! Und es sich komplett abzugewöhnen, ist weiterhin harte Arbeit. Auch deshalb gibt es nun die ‚ReBelles’: eine Bewegung, die Mädchen und Frauen zu einem positiveren Selbstbild ermutigt. Die Bewegung ist ganz organisch aus dem Buch- und Filmprojekt entstanden; mittlerweile netzwerken wir viel mit anderen Organisationen, zum Beispiel aus der Jugend- und Frauenarbeit. ‚ReBelles’ beurteilen niemanden nach dem Äußeren und machen auch darauf aufmerksam, wenn dies in ihrem direkten Umfeld geschieht.“
Was wünschen Sie den dicken Frauen in Mauretanien, und was denen in Deutschland? „Ich wünsche generell allen Frauen in Mauretanien, dass sie sich ihre Würde, ihre Stärke und ihren Stolz bewahren und mit viel Kraft an die Probleme in ihrem Land herangehen. Den deutschen Frauen wünsche ich, dass sie zu unterscheiden lernen und auch mal über den eigenen Tellerrand hinwegschauen. Ich möchte dazu ermutigen, darüber nachzudenken, wie viel Energie wir in unsere Körper stecken – und wie viel Energie in unseren Grips. Wenn man seine Zeit und Energie richtig nutzt, ist schon viel gewonnen.“ Ein Umstand, der übrigens nicht vergessen werden darf (und auf den auch der Film hinweist): In Mauretanien, wo dicke Frauen besonders schön gefunden werden, ist es auch besonders wichtig, schön gefunden zu werden – denn einen Ehemann zu finden, kann für eine Frau dort überlebenswichtig sein. Deshalb nehmen viele Mauretanierinnen freiwillig gefährliche Medikamente ein. Keine Kapseln zum Abführen wie bei uns, sondern Pillen zum Zunehmen. Gesund ist weder eine noch das andere Extrem: Dort Mast, hier Magersucht. Mauretanische Mädchen können sich aber der traditionellen Zwangsmästung durch Lebensmittel oft nicht entziehen. Sie haben keine Wahl. Frauen in Deutschland hingegen haben im Vergleich eine immense Freiheit, dennoch lassen sie den Druck eines vermeintlichen Ideals auf sich selbst zu. Ja: Wer schön sein will, muss tatsächlich reisen. Um zu lernen und um zu verstehen. Aber ganz egal, wohin man reist: Letztlich ist der Platz, an dem man okay ist, so wie man ist, im eigenen Kopf. Diese Reise kann jeder antreten. Aber sie ist vielleicht die schwerste.
Das Interview erschien zuerst auf Meine Südstadt