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Wohnungslos in der Südstadt

Es wird kalt. Der Winter naht. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Was für Rilke vor hundert Jahren in Paris galt, gilt nicht in der Südstadt. Seit 1910 gibt es hier eine Anlaufstelle für wohnungslose Männer, die nicht wissen, wo sie schlafen können: das Johanneshaus in der Annostraße. Seit 1910 eine Obdachlosenhilfe, seit 1949 getragen vom Johannesbund.

Jeder Südstädter kennt das Haus, fährt dran vorbei, sieht Männer mit Rucksäcken, Bierflaschen und Zigaretten vor dem imposanten, immer geöffneten Tor stehen, reden, trinken, sitzen. Wenn man in den Innenhof blickt, sieht man eine Gartenlaube und angrenzende Häuser. Aber was ist das Johanneshaus? Was geschieht dort? Wer lebt dort? Wir treffen uns mit zwei Verantwortlichen aus dem Johanneshaus: Mit Albert Becker, dem Leiter, und mit Thore Klahr, dem Fachbereichsleiter der Resozialisierungsabteilung und der Notaufnahme. Thore Klahr, der seit mehr als elf Jahren hier arbeitet, führt uns durch die verschiedenen Abteilungen, und schnell wird klar: Das Johanneshaus ist ein kleines Dorf. Die erste Abteilung, die jeder zuerst betritt, der hier Schutz sucht, ist die Notaufnahme. Sie ist in den Wintermonaten ab 18 Uhr geöffnet. Bis zu zwölf Menschen können aufgenommen werden. Hier kann man duschen, sich in der Kleiderkammer neu einkleiden oder sich auch erstmal ins Vierbettzimmer legen, das sehr sauber, aber schmucklos daherkommt. Man soll hier nicht heimisch werden, denn die Notaufnahme muss jeder nach 3-5 Tagen wieder verlassen. Am Morgen nach der Ankunft muss man bis 9 Uhr aus dem Zimmer wieder raus, bekommt im Speisesaal Frühstück, darf bei Bedarf den Arzt aufsuchen und spricht mit dem Sozialarbeiter. Der findet gemeinsam mit dem Obdachlosen heraus, welche Problemlage vorliegt und in welche Abteilung er weitervermittelt werden kann, sei es im Haus selbst oder sei es zu einem anderen Träger.

Die nächste Abteilung, die wir besuchen, ist die „Reso-Abteilung“, die der 43-jährige Thore Klahr leitet: „Das ist ein besonderer Baustein im Haus, für Menschen mit sozialen Schwierigkeiten, die noch etwas fitter sind als manch anderer hier auf dem Gelände und die nochmal den Weg nach draußen finden sollen.“ 48 Menschen können hier aufgenommen werden. In den ersten vier Wochen des Aufenthalts wird ein Hilfeplan aufgestellt, in dem gemeinsam mit dem Bewohner Ziele festgelegt werden. Er darf bis zu 24 Monate hier leben, darüber wird halbjährlich auf Grund des Hilfebedarfes neu entschieden.

Wie eine große Wohnung mit einem breiten Flur wirkt der Gang des Wohntrakts der Reso-Abteilung, von dem mehrere Zimmertüren (fast alle sind Einzelzimmer) abgehen. Eine davon führt in die Küche. Sie ist blitzsauber. In diesen Räumen sollen die Männer lernen, sich um sich selbst zu kümmern, sich selbst versorgen, Arbeit suchen, wieder auf die eigenen Beine kommen. Ein junger Mann begegnet uns, vielleicht 20 Jahre alt. Baseball-Cap, Jogging-Anzug. Er wirkt gepflegt und wie ein ganz normaler junger Erwachsener, ich halte ihn zunächst für einen Zivi oder Mitarbeiter. Aber er wohnt hier. Nein, sein Zimmer sei nicht sehr aufgeräumt, wir sollten zum Fotografieren lieber zu einem anderen Bewohner gehen. Der Leiter öffnet eine Zimmertür. Zwei Betten, zwei Schränke, ein IKEA-Regal, gefüllt mit Geschirr und Töpfen, ein Küchentisch, auf dem Patrick Süskinds ‚Das Parfüm’ liegt. Der Bewohner ist nicht da.

Kantine Johanneshaus

Wir gehen wieder auf den Hof, quer rüber in den Speisesaal. Hier lümmeln mehrere Männer im Vorraum, freuen sich über den Anblick von uns beiden Frauen, doch nie wird jemand bei unserem Rundgang unflätig oder unangenehm. Der Speisesaal selbst: Eine Filmkulisse für eine Gaststätte in den Sechzigern. Blauweiß karierte Tischdecken, Eichenholzfurnier und Retro-Gardinen an den Fenstern, nur, dass die schon immer da hängen. Alles sehr sauber, gepflegt, eine ausgelassene Atmosphäre. Man kann wählen zwischen Hoki-Filet mit Senfsoße, Kartoffeln und Salat oder Fleischbällchen mit Tomatensoße, Nudeln und Salat. Jedes Essen mit Vorsuppe, Hauptgericht und Dessert kostet 3,60 Euro. Hundert Essen gehen hier Tag für Tag raus. Die Männer aus der Notaufnahme (täglich kommen fünf bis sehcs Neue) bezahlen mit dem Vorzeigen einer grünen Karte, andere sind bekannt, ihre Namen werden notiert und ihr Essen später monatlich abgerechnet. An einem der sechs langen Tische sitzen viele Polen, die alle kein Deutsch können. Eine alte, etwas verwirrte Südstädterin hindert das nicht, sich dazu zu setzen und mit den Männern Mittag zu essen. Sie kommt öfters zum Essen hierher. Hier fällt sie nicht auf, denn hier ist jeder etwas wunderlich.

In der Caféteria, die sich im Keller des gegenüberliegenden Hauses befindet, in dem die Langzeitbewohner leben (der längste seit 25 Jahren), sind Alkohol und Drogen streng verboten. Sie ist von 7 bis 22 Uhr geöffnet (bei Fußballübertragungen auch länger) und wird von Bewohnern betrieben. In dem gemütlichen Gewölbekeller gibt es eine schöne Theke, Kaffee, Kuchen, einen Fernseher mit Sky-Empfang (Fußball!!), einen Computer, um nach Arbeit und Wohnung zu recherchieren, und mehrere große Tische, an denen gerade zwei Männer sitzen und sich Naturfilme anschauen. In einem weiteren Raum steht ein Billardtisch, an dem drei Männer spielen. Eine Kegelbahn aus uralten Zeiten, noch intakt, befindet sich in der nächsten Ecke des Kellers. Wie alles hier zeugt jede Ecke davon, dass die letzte Sanierung schon Jahrzehnte her ist. Alles ist sauber und gepflegt, nichts ist verwahrlost, aber doch wirkt vieles wie aus vergangenen Zeiten, als liefe man durch ein Museum. Den letzten Saal, den wir betreten, ist der Schlafsaal der Winterhilfe, ein Baustein ab jedem 1. November. Klahr: „Wir nehmen Menschen auf, die in Köln gestrandet sind, aber keine Ansprüche auf Sozialleistungen haben, wie Menschen aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Die sind irgendwann auf Arbeitssuche hier her gekommen oder auf der Suche nach einem besseren Leben und seit Jahren obdachlos. Wir nehmen sie im Winter auf, um Leib und Leben und sie vor Schwierigkeiten und Kälte zu schützen.“ Hier schlafen, wenn der Winter ganz hart kommt, bis zu 36 Männer. Alkohol ist nicht verboten, „sonst krampfen die“, so Thore Klahr, denn hier hat man es mitunter mit Schwerstalkoholikern zu tun, die auch gerne mal die Handdesinfektion austrinken. Gerade in der Winterhilfe ist Alkohol besonders problematisch, da der Begleiter der meisten Männer aus den Polen, Rumänien, Bulgarien schon sehr lange der Alkohol ist. Die Zukunft der Winterhilfe ist nicht ganz klar. Denn endlich soll im Johanneshaus renoviert werden. Der Johannesbund wird den Schlafsaal der Winterhilfe und die angrenzende Kapelle, die sehr groß ist, von den Bewohnern aber fast nur zu Weihnachts- und Trauerfeiern genutzt werden, zu mehreren Wohngruppen umbauen; u.a. ein „Trockendock“, in dem sich Männer, die dem Alkohol entsagt haben, auf ein neues Leben vorbereiten können. Die Stadt Köln will schon ab dem 1.12. 2012 neue Räume für die Winterhilfe aufgetan haben, aber Konkretes wisse man noch nicht, so Klahr.

Johanneshaus Köln

Zum Ende des Rundgangs gehen wir zum ‚Annohaus’. Hier leben depravierteAlkoholiker und ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen. Im verrauchten Aufenthaltsraum sitzen Männer in kleinen Grüppchen zusammen. Im Fernsehen, das an einer Zimmerecke befestigt ist, zeigt der Kölner Millionär Robert Geiss seine gebleichten Zähne. Am Tisch davor sitzt ein vollbärtiger Mann, raucht und folgt interessiert Geissens Ausführungen. Eine Madonnenfigur und ein Kruzifix hängen an der Wand, daneben hat jemand ein Bier trinkendes Strichmännchen gemalt. An der anderen Wand hängen kleine Fotos, mindestens hundert. Die wurden von einem Obdachlosen aufgenommen, seine Welt aus seinen Augen, und von einem Künstler gerahmt und installiert. Wir schauen uns die Fotos an. Bärte, Zigaretten, schlafende Männer, aber auch viele lachende Gesichter.

Wir gehen wieder raus durch die frische Luft zum Vorderhaus ins Büro des Leiters Albert Becker, um ihn und Thore Klahr zu interviewen. Albert Becker, seit 1982 als Diplom-Pädagoge im Hause tätig, leitet das Johanneshaus. Zusammen mit ihm sind an die 80 Mitarbeiter für das Wohl der um die 320 vom Johannesbund in Köln betreuten Bewohner zuständig, von denen 160 im Johanneshaus wohnen. Wir, die Fotografin Barbara Siewer und ich, treffen uns mit ihm und mit Thore Klahr, dem Leiter der Resozialisierungs-Abteilung (kurz „Reso“) und der Notaufnahme, zu einem Gespräch. Wie sind Sie Leiter eines Obdachlosenheims geworden? Albert Becker: Ich bin als Diplom-Pädagoge seit 1982 im Haus und kenne das Haus, die Menschen und die Mitarbeiter seit 30 Jahren. Ich habe hier zufällig nach dem Studium angefangen. Es ist aber kein Zufall, dass ich immer noch hier bin. Das Haus ist ein interessantes Arbeitsfeld, abwechslungsreich und intensiv.

Wie muss man gestrickt sein, um solch einen Beruf ausüben zu können? Thore Klahr: Man muss ein großes Mitgefühl für die Menschen haben, die hier mit ihren unterschiedlichen Problemlagen ankommen. Man muss belastbar und in der Lage sein, viele verschiedene Situationen an einem Tag bewältigen zu können, von denen man morgens noch nicht weiß, dass sie auftauchen werden. Was war Ihr letztes Erfolgserlebnis? Albert Becker: Dass der Johannesbund beschlossen hat, in der Einrichtung umzubauen. Das ist sehr positiv und kommt den Menschen, die hier wohnen, zugute. Wir haben schon sehr viel renoviert und getan, um die Wohnsituation der hier lebenden Menschen zu verbessern. Allerdings gibt es noch Räumlichkeiten, die frei stehen und zu Wohngruppen umgebaut werden. Thore Klahr: Ich freue mich, wenn jemand aus der Entgiftung kommt und trocken bleibt. Wenn jemand sich dran macht, Arbeit zu suchen. Wenn jemand stabil bleibt und lange nicht mehr im Knast war. Da sind so viele kleine Erfolgserlebnisse, die im Alltag auftauchen. Ich glaube auch nicht, dass die Arbeit hier sinnlos ist, sonst würde man es nicht schaffen, jeden Tag hier mit diesen zum Teil auch schwierigen Menschen zusammen zu arbeiten. Aber man muss realistisch sein und die Erfolgserlebnisse auch realistisch einschätzen. Die Personen, die über lange Jahre Hilfe bedürfen, muss man auch richtig einschätzen. Da sind die Erfolgserlebnisse einfach andere. Es gibt hier Abteilungen, da ist es ein Erfolgserlebnis, den Menschen einfach gut über den Tag zu bringen, ohne dass große Schwierigkeiten auftauchen. Wie heißt das Haus nun richtig, Annohaus oder Johanneshaus? Albert Becker: Annohaus hieß es Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir nennen uns Johanneshaus. Annohaus heißt heute der Bereich für depravierte Alkoholiker und Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie sagten im Vorgespräch, dass sich das Haus heute mehr öffnet. Albert Becker: Früher war es so, dass die Wohnungslosen sehr abgeschottet wurden. Ein Rückzugsgebiet für Ausgestoßene. Das hat sich im Selbstbild der Einrichtung auch widergespiegelt. Man hat das Elend hinter die Tür gepackt und die Tür zugemacht. Gibt es einen Tag der offenen Tür?


Albert Becker: Wenn das jemand organisieren würde, gerne. Aber wir haben nicht das Personal, um solch einen Tag zu planen und durchzuführen. Wie viele Mitarbeiter arbeiten hier? Albert Becker: Um die 80 Mitarbeiter aus verschiedenen Berufsgruppen: Pforte, Sozialdienst, Verwaltung, Küche, Speisesaal, Hauswirtschaft, Reinigungsdienst, Haustechnik, drei Krankenschwestern und eine Ärztin vom mobilen, medizinischen Dienst des Gesundheitsamtes, die hier vormittags werktäglich eine Sprechstunde abhält. Gibt es Grundthemen, die immer wieder auftauchen? Thore Klahr: Ja, Suchtproblematik, psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen, Verwahrlosungstendenzen, bei den Jüngeren Mangel an sozialer Kompetenz, die wir versuchen, mit ihnen einzuüben. Aber sind die Süchte nicht nur die Symptome, das Problem aber ein ganz anderes? Wenn jemand trinkt, trinkt er ja aus Gründen. Thore Klahr: Natürlich hat das Hintergründe. Im Vordergrund sieht man erst nur die Suchtproblematik und muss im Verlauf des Hilfeprozesses schauen, woher das kommt, was im Leben passiert ist, wo die Brüche, die Schwierigkeiten, die Ehescheidungen oder andere Verluste waren. Albert Becker: Im Fokus der Arbeit stehen auch nicht die psychischen Erkrankungen oder die Süchte. Viele Menschen müssen auch erst einmal lernen, trotz der ganzen Problemlagen, die sie mit sich herumschleppen, ein für sich persönlich zufrieden stellendes Leben führen zu können. Dürfen hier im Haus Alkohol und Drogen konsumiert werden? Thore Klahr: Im Haus darf Alkohol konsumiert werden. Wir achten aber darauf, dass keine Exzesse stattfinden. Von illegalen Drogen distanzieren wir uns und bieten Hilfe an, wenn der Betroffene bereit ist, mitzuarbeiten. Aber wenn jemand Heroin konsumiert, vermitteln wir ihn an die Drogenhilfe Köln. Albert Becker: Wenn Sucht zum Problem wird, gibt es Schnittstellen zu anderen Hilfesystemen, Suchtberatungsstellen, Kliniken, Therapieeinrichtungen. Wir versuchen dann, den Betroffenen zu motivieren, fachlich qualifizierte Hilfe anzunehmen. Wie viele Menschen wohnen hier fest, und wie fest wohnen die hier? Albert Becker: Wir haben einen Dauerwohnbereich, wo Menschen leben, die auf dauernde Hilfe und Begleitung angewiesen sind und die durch den Rahmen und die Struktur etwas geschützt sind. Da leben die Männer länger, der längste seit 25 Jahren. In der Notaufnahme ist man in der Regel 3-5 Tage, in der Reso-Abteilung 6-24 Monate, im Annohaus auch längerfristig. Das ist also ganz unterschiedlich und hängt von der individuellen Problemlage ab. Sterben hier auch Menschen? Albert Becker: Sterben steht hier nicht gerade auf der Tagesordnung, aber alle 1-2 Monate wird hier jemand tot aufgefunden. Wir informieren dann das Ordnungsamt, das Sozialamt und das Bestattungsinstitut. Auf dem Südfriedhof gibt es eine Gräberstätte für wohnungslose Menschen. Pater Ambach, unser Seelsorger und auch der ehemalige Leiter des Johanneshauses, lebt hier auf dem Gelände und führt die Bestattungen durch. Warum sind viel mehr Männer als Frauen von Obdachlosigkeit betroffen? Thore Klahr: Ich denke, Frauen geraten nicht so schnell in die Obdachlosigkeit, weil sie sich öfter eher in Abhängigkeiten begeben und verdeckt obdachlos sind. Die haben vielleicht keine eigene Wohnung mehr, aber kommen gegen z.B. sexuelle Dienstleistungen irgendwo unter. Die Männer sind eher direkt auf der Straße, wenn sie sich nicht schnell in Abhängigkeiten begeben können. Was wir oft erleben: Viele Männer lernen eine Frau kennen, ziehen bei ihr ein, stehen nicht mit im Mietvertrag, irgendwann ist die Beziehung zu Ende, und der Mann steht wieder auf der Straße. Albert Becker: Ich glaube, dass Frauen in dem Punkt mehr alltagspraktische Fähigkeiten mitbringen und eher in der Lage sind, in einer Wohnung zurecht zu kommen als Männer. Aber da gibt es sicher viele Gründe. Findet hier auch Sexualität statt?


Albert Becker: Davon gehe ich mal aus. In welcher Form auch immer. Thore Klahr: Ich denke schon, dass hier viel passiert. Wir kriegen das meistens nicht mit, weil es von den Beteiligten unter der Decke gehalten wird, denn man will hier damit nicht in die Öffentlichkeit treten. Glauben Sie, dass das Johanneshaus von den Südstädtern akzeptiert wird? Albert Becker: Das Johanneshaus ist ein fester und akzeptierter Bestandteil der Südstadt. Es kommt schon mal zu Nachbarschaftskonflikten, weil z.B. die Musik zu laut ist, aber wir versuchen das dann im Sinne der Nachbarschaft zu regeln. Thore Klahr: Wir bringen uns auch in den letzten Jahren mehr in die Öffentlichkeit und nehmen z.B. Karnevalsdienstag am Südstadtzug teil. Die Südstädter reagieren da immer sehr positiv drauf. Albert Becker: Uns besuchen auch schon mal Schulklassen, und wir bieten auch Sozialpraktika für Schüler an. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Situation der Obdachlosen in den letzten 30 Jahren verbessert oder verschlimmert hat? Albert Becker: Es ist viel passiert. Das Haus und die Menschen sind nicht mehr wie vor 30 Jahren. Damals gab es viel mehr Menschen, die von Einrichtung zu Einrichtung gependelt sind. Heute sind die Menschen eher bestrebt, an einem Ort zu leben und nicht mehr alle 3-6 Monate die Zelte abzubrechen und woanders neu anzufangen. Den typischen Landstreicher von früher gibt es heute nicht mehr. Das hängt mit der Sozialgesetzgebung und der qualifizierter gewordenen Betreuung zusammen. Früher gab es den Sozialarbeiter in dem Umfang und mit der Ausbildung in der Einrichtung hier auch gar nicht. Gibt es hier auch immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund? Albert Becker: Das ist jedes Jahr anders und hängt damit zusammen, dass sich die EU jedes Jahr erweitert und der Status der einzelnen Länder unterschiedlich ist. Das ist sehr kompliziert. Immer andere Menschen aus anderen Ländern kommen an, aber mit unterschiedlichen Sozialansprüchen. Wir haben auch sehr viele Menschen, die auf der Straße liegen und keine Ansprüche haben. Wie sehen die Sozialansprüche aus? Thore Klahr: Die Menschen bekommen Arbeitslosengeld, ALG II, Grundsicherung. In der stationären Reso –Abteilung geht das ALG II an den Landschaftsverband Rheinland, der bei uns (d.h. in der Reso-Abteilung) Kostenträger ist. Der LVR übernimmt dafür die Kosten der gesamten Maßnahme. Die Menschen erhalten 100,98€ Taschengeld im Monat. Wenn sie sich selbst verpflegen möchten, erhalten sie zusätzlich 36,40 Euro die Woche Verpflegungsgeld. Albert Becker: Bei der ambulanten Hilfeform bekommen sie SGB II-Leistungen oder XII-Leistungen (Grundsicherung) und müssen hier Miete bezahlen. Die Regelleistung steht dem Betroffenen selber zu, er kann sich damit beispielsweise selbst verpflegen. Diese Geldansprüche (SGB II und XII) haben die Ausländer je nach Aufenthaltsstatus nicht, und auch keinen Anspruch auf eine vom Staat finanzierte Betreuung. Haben Bewohner Kontakte zu ihrer Familie? Thore Klahr: Es gibt soziale Kontakte zur Ex-Frau, zur Freundin, zu Kindern. Viele haben keine Kontakte zu den Kindern, weil es für sie schambehaftet ist, hier zu wohnen, und weil sie vielleicht die Vergangenheit nicht so aufarbeiten können, wie sie es gerne hätten. Es gibt einige, die soziale Kontakte nach draußen haben. Viele haben es nicht. Wie wird Weihnachten gefeiert? Albert Becker: Die Weihnachtsfeier führen wir seit vielen Jahren mit der „AXA von Herz zu Herz“ durch. Die Bewohner dürfen sich im Umfang von 30 Euro etwas wünschen, die Wunschzettel werden an einen Weihnachtsbaum in der AXA gehängt, die AXA-Mitarbeiter nehmen die Wunschzettel ab, besorgen die Geschenke, verpacken sie schön, und die Geschenke kommen an Heiligabend hier her. Was wird sich da gewünscht? Albert Becker: Tabak, CDs, Toilettenartikel, Handschuhe, Saturngutscheine, alles Mögliche. Einer hat sich mal ein Essen mit einer Frau gewünscht. Der Wunsch wurde ihm erfüllt. Was kann man tun, wenn man hier helfen will? Kleiderspende, Ehrenamt? Albert Becker: Man kann Kleider für die Kleiderkammer spenden: Einfach an der Pforte abgeben. Man kann auch Geld spenden. Ehrenamtliche Tätigkeiten müssen immer erst koordiniert werden. Der Ehrenamtler und der Mitarbeiter muss die Zeit haben, der Betroffene muss dafür zugänglich sein und auch Vertrauen fassen. Nur einen Tag im Monat hier etwas tun, das funktioniert nicht. Die AXA bietet mit dem Sozialdienst Freizeitunternehmungen an. Museum, Sealife, zum Wandern ins Siebengebirge, Kino, Fußball. Aber das sind längerfristige Aktionen. Wie hat sich mit den Jahren Ihr Menschenbild geändert?


Albert Becker: Gar nicht. Thore Klahr: Ich habe ein positiveres Menschenbild bekommen, weil ich gesehen habe, dass auch da, wo viel Armut und Leid ist, die Menschen doch sehr herzlich sind. Ich denke nicht, dass die Menschen alle schlecht sind, die Wohnungslosen klauen oder die Gesellschaft sie alle ausstößt. Ich denke, da passiert was. Da ist was im Gange in den letzten Jahren.

Der Artikel erschien in zwei Teilen erstmalig in Meine Südstadt.

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