Wenn die bunten Fahnen wehen
Nein, es geht hier ausnahmsweise mal nicht um die inflationär auftauchenden Deutschland-Fähnchen an Autos und Fensterbänken zu bestimmten Fußball-Großereignissen, es geht um das Lagerfeuersingen im Rahmen des Edelweißpiratenfestivals.
Ich mache mich auf den Weg Richtung Friedenspark. Lagerfeuersingen gehörte in meinen Zehnerjahren zu meinen leichtesten Übungen, war ich doch aktiv beim CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) und konnte Gitarre spielen. Ohne Gitarre, aber mit viel Wehmut betrete ich den Innenhof des Bauspielplatz. Dort brennt schon das namengebende Lagerfeuer, Bierbänke werden aufgestellt, Info- und Trinkstände aufgebaut. Ich setze mich ans Feuer und beobachte die Szene.
Es ist noch hell, ein lauer Sommerabend wie selten, und der Innenhof beginnt sich stetig zu füllen. Plötzlich bemerke ich eine ganze Gruppe um einen Tisch, Akkordeon, Gitarre, Liederhefte werden verteilt, der Festivalleiter Jan Krauthäuser begrüßt die Gäste, und schon geht es los. Gleich das erste Lied rührt mich zu Tränen: „Wenn die bunten Fahnen wehen“. Ich habe es seit 25 Jahren weder gehört noch gesungen, aber ich kann jede Zeile mitsingen, und das mache ich auch.
Die Gruppe um die Musiker scheint ein eingespieltes Team zu sein. Sie singen mit zweiten Stimmen, wiederholen Teile der Refrains und finden Harmonien. Ich erfahre von meinem Banknachbarn, dass sich viele jeden Sonntag im Weißen Holunder treffen und die Lieder jede Woche singen. Das erklärt auch die Selbstverständlichkeit, mit der Lieder ausgesucht werden, ohne sie den anderen Mitsingern mitzuteilen.
Oft blättere ich hektisch das Liederheft durch, weil ich nicht weiß, welches Lied gerade gesungen wird, und wenn ich es finde, ist es fast schon vorbei. Doch viele der Lieder kenne ich, „Wir sind die Moorsoldaten“, „Die Gedanken sind frei“, „Bella ciao“, „Heute hier, morgen dort“, „Mir klääve am Lääwe“, „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Sehnsuchtslieder. Nicht immer original Bündische Lieder der Edelweißpiraten, aber immer mit der gleichen Wehmut. Hinaus in die Welt, woanders ist es auch schön. Aber Moment: Bündische Lieder? Edelweißpiraten?
Wer waren die Edelweißpiraten? Zwischen 1939 und 1945 fanden sich Jugendliche im Nazideutschland in informellen Gruppen zusammen. Sie wollten nicht in die Hitlerjugend eintreten und weiterhin die Lieder der Bündischen Jugend (einer Jugendbewegung, die sich aus den Wandervögeln und den Pfadfindern gebildet hatte) singen, obwohl diese seit 1936 verboten waren. Denn das Singen in illegalen Gruppen wurde von den Nationalsozialisten als Gefahr bewertet. Man sollte bitteschön Nazilieder singen und nicht die Lieder der Bündischen, in denen es um ferne, exotische Länder ging und Fernweh und Freiheitsgefühle hervorgerufen wurden.
Die Edelweißpiraten ließen sich von den Verboten jedoch nicht beirren und sangen heimlich weiter, unternahmen Fahrten ins Kölner Umland, wanderten und ließen sich nicht einschüchtern. Einige schlossen sich auch anderen Widerstandsgruppen an und mussten mit ihrem Leben bezahlen. Aber allein das Singen der Bündischen Lieder führte auch schon ins Gefängnis.
Foto: Christoph Rückert aka Dstern
Die bekanntesten Kölner Edelweißpiraten sind Gertrud „Mucki“ Koch, Hans Fricke, Peter Schäfer, Wolfgang Schwarz und Fritz Theilen und der verstorbene Jean Jülich. Sie erhielten mittlerweile das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Das Edelweißpiratenfestival findet dieses Jahr zum achten Mal statt. Der Urgedanke war es, öffentliche Aufmerksamkeit für die Geschichte und Rehabilitation der Edelweißpiraten zu erzeugen, damit deren Geschichte nicht vergessen wird und lehrt, für Freiheit und Zivilcourage einzustehen.
Am Vorabend des großen Festivaltages finden sich Menschen zusammen, die am Lagerfeuer die Bündischen, die „gefährlichen Lieder“ singen. Zu den alten Liedern gesellen sich neue der Bläck Fööss oder Hannes Wader. Auch ein Lied von Udo Jürgens findet sich im Liederheft („Spiel, Zigan, spiel“).
Die 27 Bands, die am großen Tag des Festivals auftreten, haben die Auflage, mindestens ein Lied der Edelweißpiraten zu spielen. Damit diese Lieder nie vergessen werden.
Das diesjährige Edelweißpiratenfestival trägt das Motto „Freiheit“. „Wer heute das Glück hat, in einer Demokratie zu leben, muss aufpassen, dass er seine Freiheit nicht freiwillig abgibt und lediglich zum Konsum-Zombie wird“, steht in einer Ankündigung. Das ist eine sehr kluge Erkenntnis, und sie passt zu einem Satz von Jean-Jacques Rousseau, den ich kürzlich las: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ Die Freiheit, nicht tun zu müssen, was man nicht tun will, die gibt es in vielen Ländern dieser Welt nicht. Und auch unsere Demokratie ist noch jung. Und trotzdem wird auch hier das Wesentliche oft gar nicht mehr wahrgenommen. Wie so vieles schätzt man Freiheit erst dann, wenn man sie nicht mehr hat. Sobald die Freiheit beschnitten wird, die eigene und die anderer, bedarf es Zivilcourage und Mut, sich für die Freiheit einzusetzen.
Das Lagerfeuer lodert, die Sonne ist schon fast untergegangen, um die hundert Menschen sitzen und stehen im Innenhof, es werden Teelichte verteilt, damit man die Liedertexte auch im Dunkeln noch lesen kann, und ich sitze immer noch auf der Bank, singe mit und komme mit anderen ins Gespräch.
Warum seid Ihr heute Abend hier?
„Weil es mich glücklich macht“, sagt DJane Meli Melo, die mir einen Sekt ausgegeben hat, was mich an das Bläck Fööss-Lied „Drink doch ene met“ erinnern lässt. „Weil das hier eine schöne und ungezwungene Atmosphäre ist“, sagen die Jüngsten hier, die auch sonst gerne zu Mitsing-Konzerten gehen. „Weil ich die Lieder aus meiner Pfadfinderzeit in den Sechziger Jahren kenne und sie immer noch gerne singe“, sagt der ältere Herr am Trinkstand. „Weil das hier meine Leute sind“, sagt mein Banknachbar, „das ist Südstadt.“
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Die Reportage erschien zuerst auf Meine Südstadt.